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LG Hildesheim zu der Frage des Arbeitsschutzes im Hochbau und den strafrechtlichen Implikationen der Verletzung von Arbeitsschutzpflichten

vorgestellt von Thomas Ax

1. Die gesetzlichen Arbeitsschutzpflichten des Arbeitgebers werden durch die BaustellV nicht berührt.
2. Wer entgegen der Arbeitsstättenrichtlinie ASR A2.1 keine Absturzsicherung vorsieht, verletzt seine Verkehrssicherungspflicht.
3. Grundsätzlich entfällt die strafrechtliche Verantwortlichkeit eines Arbeitgebers für die Unfallfolgen bei einem von ihm begangenen Verstoß gegen Unfallverhütungsvorschriften, der zur Verletzung eines in seinem Betrieb beschäftigten Arbeitnehmers führt, nicht deshalb, weil dem Arbeitnehmer die Nichteinhaltung der Unfallverhütungsvorschriften bekannt war und er in Kenntnis der hieraus entspringenden Gefahren für Leib und Leben seine Arbeitsleistung erbrachte. Etwas anderes kann in Fällen eigenverantwortlicher Selbstgefährdung gelten (hier verneint).
4. Sicherungspflichten können grundsätzlich an andere Personen übertragen oder delegiert werden, jedoch geht damit nicht zwingend einher, dass der ursprünglich Verantwortliche gänzlich von seinen Pflichten frei würde. Im Fall einer vertikalen Arbeitsteilung (hier: zwischen Arbeitgeber und Polier) sind durch den ursprünglich Pflichtigen organisatorische Maßnahmen zu treffen.
5. Ein Polier ist auf der Baustelle – zumindest sekundär – sicherungspflichtig. Einer ausdrücklichen Übertragung der Pflichten bedarf es insoweit nicht. Regelmäßig begründet bereits die tatsächliche Übernahme eines entsprechenden Pflichtenkreises diesbezügliche Sorgfaltspflichten.
LG Hildesheim, Beschluss vom 14.05.2024 – 20 Qs 55/23
vorhergehend:

Gründe

I.

Die Staatsanwaltschaft Hildesheim hat am 13.09.2022 Anklage gegen die Angeschuldigten wegen des Vorwurfs einer am 31.08.2020 in A. begangenen fahrlässigen Körperverletzung gem. §§ 223 Abs. 1, 229 StGB erhoben. In der Anklageschrift wurde folgender Sachverhalt zur Last gelegt:

Obwohl den in Folge ihrer Stellung als Bauunternehmer und Polier für die Arbeitssicherheit auf der Baustelle verantwortlichen Angeschuldigten K. und S. bewusst war, dass auf der Baustelle “W.-Durchlass” in der H. Straße in A. weder eine erforderliche Gefährdungsbeurteilung für den Höhenarbeitsplatz zur Montage der anzubringenden Stahlträger vorgenommen, noch eine ausreichende Absturzsicherung angebracht worden war, ließen sie die Arbeiten trotz jeweiliger Kenntnis über die Gefahrensituation fortlaufen und stoppten diese im Hinblick auf den einzuhaltenden Terminplan auf der Baustelle nicht. Auch wies der Angeschuldigte S. den Angeschuldigten K. nicht auf das Erfordernis einer ordnungsgemäßen Absicherung hin.

In der Folge der unterbliebenen gebotenen Absicherungsmaßnahmen, welche durch beide Angeschuldigten in ausreichendem Maße jeweils hätten veranlasst werden können, kam es im Rahmen der Montage eines Stahlträgers zu einem Absturz des Geschädigten E., was die Angeschuldigten im Hinblick auf ihre berufliche Erfahrung und Qualifikation hätten erkennen können und müssen.

Der Geschädigte E. wurde bei dem Sturz von mehreren Moniereisen durchstoßen. Er erlitt eine Perforation des Beckenbodens, eine knöcherne Absprengung am vorderen Schambeinast, eine Abscherverletzung des vorderen Beckenrings, Perforationen des Dünndarms sowie intraperitonealen Rektums, eine Weichteilperforation im Oberschenkel sowie eine akute Belastungsstörung.

Mit der angefochtenen Entscheidung vom 09.08.2023 hat das Amtsgericht Alfeld (Leine) – nach Beteiligung der Angeschuldigten – die Eröffnung des Hauptverfahrens aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen abgelehnt, da die Angeschuldigten der ihnen zur Last gelegten Tat nicht hinreichend verdächtig seien. Auf die weiteren Ausführungen des Beschlusses wird Bezug genommen.

Gegen die ihr am 15.08.2023 zugegangene Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens richtet sich die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Hildesheim vom 17.08.2023, eingegangen bei dem Amtsgericht Alfeld (Leine) am selben Tage. Die Staatsanwaltschaft begehrt darin die Zulassung der Anklage und die Eröffnung des Hauptverfahrens. Auf die Ausführungen der Rechtsmittelschrift wird ebenfalls Bezug genommen.

Die Kammer hat den Angeklagten und ihren Verteidigern vor der Entscheidung der Kammer gem. § 308 Abs. 1 StPO Gelegenheit zur Stellungnahme zu der Beschwerdeschrift der Staatsanwaltschaft Hildesheim gegeben.

II.

Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen die Nichteröffnung des Hauptverfahrens ist zulässig und führt in der Sache auch zum Erfolg.

1. Das Amtsgericht Alfeld (Leine) hat den Antrag auf Eröffnung des Hauptverfahrens zu Unrecht aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen abgelehnt. Die angefochtene Entscheidung war aufzuheben, weil die Angeschuldigten nach dem Ergebnis des Ermittlungsverfahrens hinreichend verdächtig sind, die ihnen vorgeworfene Tat begangen zu haben (§ 203 StPO). Ein hinreichender Tatverdacht besteht bei vorläufiger Tatbewertung in der Wahrscheinlichkeit der späteren Verurteilung, es genügt also ein schlichtes Überwiegen der Verurteilungswahrscheinlichkeit (vgl. BGHSt 54, 275, 281; BGH StV 2001, 579, 580; BGH NStZ-RR 2004, 227; KK-StPO/Schneider, 9. Aufl. 2023, StPO § 203 Rn. 4 m.w.N.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Auflage 2023, § 203 Rn. 2 m.w.N.). Diese ist nach dem bisherigen Ermittlungsergebnis gegeben.

Das Amtsgericht vertritt in der angefochtenen Entscheidung die Auffassung, dass eine Überführung der Angeschuldigten anhand der zur Verfügung stehenden Beweismittel nicht gelinge. Die Kammer teilt diese Auffassung bei Bewertung des bisherigen Akteninhalts nicht. Für den Grundsatz in dubio pro reo ist bei dem Wahrscheinlichkeitsurteil im Zwischenverfahren ohnehin noch kein Raum (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Auflage 2023, § 203 Rn. 2 m.w.N.). Zwar kann der hinreichende Verdacht mit der Begründung verneint werden, dass nach Aktenlage bei den gegebenen Beweismöglichkeiten am Ende wahrscheinlich das Gericht nach dem Grundsatz freisprechen wird (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O. m.w.N.), allerdings drängen sich im vorliegenden Fall nach dem aktuellen Ermittlungsergebnis Indizien in einem Maße auf, die der Wahrscheinlichkeit eines Freispruchs jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt entgegenstehen.

2. Nach dem bisherigen Beweisergebnis ist in einer Gesamtschau jedenfalls derzeit eine spätere Verurteilung der Angeschuldigten wegen fahrlässiger Körperverletzung durch Unterlassen gem. §§ 229, 13 Abs. 1 StGB wahrscheinlich.

Eine derartige Strafbarkeit der Angeschuldigten würde insbesondere erfordern, dass sie rechtlich – zumindest auch – dafür einzustehen hatten, dass die infolge des Sturzes hervorgerufene Körperverletzung des Geschädigten E. nicht eintritt. Das ist vorliegend der Fall.

a) Vorauszuschicken sind zunächst die anerkannten Rechtsgrundsätze, die der Bundesgerichtshof unter anderem in seinem Urteil vom 13. November 2008 (4 StR 252/08 -, BGHSt 53, 38-45, Rn. 16) dargestellt hat und denen sich die Kammer anschließt:

“Jeder, der Gefahrenquellen schafft oder unterhält, (hat) die nach Lage der Verhältnisse erforderlichen Vorkehrungen zum Schutz anderer Personen zu treffen (st. Rspr.; BGHZ 103, 338, 340; BGHR BGB § 823 Abs. 1 Verkehrssicherungspflicht 18). Diese Sicherungspflicht wird indes nicht bereits durch jede bloß theoretische Möglichkeit einer Gefährdung ausgelöst; da eine absolute Sicherung gegen Gefahren und Schäden nicht erreichbar ist und auch die berechtigten Verkehrserwartungen nicht auf einen solchen absoluten Schutz ausgerichtet sind, beschränkt sich die Verkehrssicherungspflicht auf das Ergreifen solcher Maßnahmen, die nach den Gesamtumständen zumutbar sind und die ein verständiger und umsichtiger Mensch für notwendig und ausreichend hält, um andere vor Schäden zu bewahren. Haftungsbegründend wirkt demgemäß die Nichtabwendung einer Gefahr erst dann, wenn sich vorausschauend für ein sachkundiges Urteil die nahe liegende Möglichkeit ergibt, dass Rechtsgüter anderer Personen verletzt werden können (st. Rspr.; vgl. BGHR BGB § 823 Abs. 1 Verkehrssicherungspflicht 31). Diese in der zivilrechtlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze sind maßgebend auch für die Bestimmung der strafrechtlichen Anforderungen an die im Einzelfall gebotene Sorgfaltspflicht. Ausgangspunkt dafür ist jeweils das Maß der Gefahr mit der Folge, dass die Sorgfaltsanforderungen umso höher sind, je größer bei erkennbarer Gefährlichkeit einer Handlung die Schadenswahrscheinlichkeit und Schadensintensität sind (zur Abhängigkeit zwischen dem Maß der Gefahr und der Sorgfaltspflicht BGHSt 37, 184, 187; 47, 224, 230 f.; Landau, Das strafrechtliche Risiko der am Bau Beteiligten, wistra 1999, 47, 49).”

b) Hiernach besteht zunächst ein hinreichender Tatverdacht gegen den Angeschuldigten K. in seiner Funktion als Arbeitgeber des Zeugen E., weil er mit hinreichender Wahrscheinlichkeit gegen die ihm aus der Baustellenverordnung und dem Arbeitsschutzgesetz obliegende Sorgfaltspflicht zur Sicherung der Arbeitsstätte des Mitarbeiters E. verstoßen und somit seine sich aus § 618 Abs. 1 BGB folgende Garantenstellung, die durch die speziellen Arbeitsschutz- und Unfallverhütungsvorschriften konkretisiert wird (vgl. OLG Rostock, Urteil vom 10. September 2004 – 1 Ss 80/04 I 72/04 -, Rn. 8, juris), verletzt hat.

aa) Aus den oben dargestellten, allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen zu Verkehrssicherungsplichten folgt, dass aus der Zuständigkeit des Unternehmens des Angeschuldigten K. für die konkret beauftragten Arbeiten die Verpflichtung resultiert, Dritte vor den durch die Arbeiten drohenden Gefahren zu schützen und die hierzu erforderlichen Vorkehrungen zu treffen. Diese Pflicht bestand grundsätzlich nicht nur gegenüber Außenstehenden, wie etwa befugten Besuchern der Baustelle, sondern auch gegenüber den an dem Bau tätigen Arbeitnehmern, solange sie nicht selbst sicherungspflichtig sind (vgl. BGH, Urteil vom 13. November 2008 – 4 StR 252/08 -, BGHSt 53, 38-45, Rn. 17 m.w.N.; Palandt-Sprau, BGB, 83. Auflage 2024, § 823 Rn. 201).

Die allgemeinen Regelungen erfahren darüber hinaus durch spezielle Vorschriften noch eine Konkretisierung. Insbesondere hat ein Arbeitgeber zum Schutz seiner Beschäftigten gem. § 5 Abs. 1 BaustellV – unabhängig von den nach der Baustellenverordnung den Bauherren treffenden Pflichten – bei der Ausführung von Arbeiten die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes zu treffen und – soweit vorhanden – den Sicherheits- und Gesundheitsschutzplan bzw. die Hinweise des Koordinators zu berücksichtigen.Die Regelung stellt eine spezielle Ausprägung der allgemeinen Grundsätze der §§ 4, 5 ArbSchG dar und grenzt die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten der Arbeitgeber gegenüber dem Bauherrn als Verpflichteten aus der BaustellV ab (vgl. BeckOK ArbSchR/Meyer, 17. Ed. 1.1.2024, BaustellV § 5 Rn. 3-5). Der Arbeitgeber bleibt damit verpflichtet, im Rahmen des Arbeitsschutzes die Arbeit so zu gestalten, dass eine Gefährdung für das Leben oder die Gesundheit seiner Arbeitnehmer möglichst vermieden sowie die verbleibende Gefährdung möglichst gering gehalten wird (§ 4 Nr. 1 ArbSchG). Hierfür hat er gem. § 5 ArbSchG durch eine Beurteilung der für die Beschäftigten mit ihrer Arbeit verbundenen Gefährdung zu ermitteln, welche Maßnahmen des Arbeitsschutzes erforderlich sind. Diese erforderlichen Maßnahmen bedürfen dann der Umsetzung.

In diesem Zusammenhang kommt es demnach auch nicht darauf an, ob seitens der Bauherrin ein gem. § 2 Abs. 3 Satz 2 BaustellV erforderlicher Sicherheits- und Gesundheitsschutzplan erstellt wird. Die Verpflichtungen des Arbeitgebers enden dadurch gerade nicht, denn schon nach der BaustellV selbst hat der Arbeitgeber bei der Ausführung der Arbeiten die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes zu treffen (vgl. OLG Oldenburg (Oldenburg), Urteil vom 28. Februar 2017 – 2 U 89/16 -, Rn. 48, juris). Der Sicherheits- und Gesundheitsschutzplan ist bei Wahrnehmung der Arbeitgeberpflichten zwar zu berücksichtigen (§ 5 Abs. 1 letzter Halbsatz BaustellV), jedoch geht die BaustellV in ihrem Wortlaut nicht von einer solchen Verbindlichkeit des Sicherheits- und Gesundheitsschutzplans aus, dass alle Inhalte bzw. auch etwaige fehlenden Inhalte für den Arbeitgeber verbindlich sind (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 9. November 2012 – I-9 U 7/11 -, Rn. 27, juris; Kollmer/Klindt/Schucht/G. Kollmer, 4. Aufl. 2021, BaustellV § 5 Rn. 2). Die gesetzlichen Arbeitsschutzpflichten des Arbeitgebers werden demnach nicht durch einen Sicherheits- und Gesundheitsschutzplan maßgeblich abgeändert. Die auf der Baustelle tätig werdenden Arbeitgeber haben sich nach den Vorgaben der BaustellV nur Kenntnis von den Festlegungen des Sicherheits- und Gesundheitsplans zu verschaffen und diese in die eigene Arbeitsschutzplanung einfließen zu lassen, was mit der in § 5 Abs. 3 BaustellenVO getroffenen Regelung korrespondiert, wonach die Verantwortlichkeit der Arbeitgeber für die Erfüllung ihrer Arbeitsschutzpflichten durch die Maßnahmen nach den §§ 2 und 3 BaustellenVO nicht berührt werden (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 9. November 2012, a.a.O.).

Demnach hat der Umstand, dass es einen Sicherheits- und Gesundheitsplan gab, der am Tag des Vorfalls von dem Zeugen H. fortgeschrieben wurde und das Erfordernis eine Absturzsicherung an der Absturzstelle nicht vorsah, auch keinen durchgreifenden Einfluss auf die für den Angeschuldigten K. bestehenden Arbeitgeberpflichten. Der mit der Erstellung des Sicherheits- und Gesundheitsschutzplans Beauftragte ist ohnehin schon nicht verpflichtet, an jedem Tag sämtliche denkbaren Gefahrenstellen abzugehen, weil Sicherheitskontrollen, die zu allen denkbaren Zeiten an allen denkbaren Gefahrenstellen einer Baustelle gleichzeitig erfolgen, unmöglich sind (vgl. LG Erfurt, Urteil vom 18. August 2011 – 10 O 1961/10 -, Rn. 27, juris). Ansonsten würde jede zu beginnende Einzelbaumaßnahme von einer Freigabe durch den Sicherheits- und Gesundheitsplan abhängig gemacht werden, was gerade nicht gewollt ist. Der Zeuge H. hatte aber darüber hinaus nach seinen Angaben auch gar keine Information dazu erhalten, dass die vorgenommenen Arbeiten wie erfolgt noch durchgeführt werden sollten. Er hat in seiner Vernehmung vom 07.09.2021 bekundet, dass ihm nicht bekannt gewesen sei, dass an der späteren Absturzstelle gearbeitet werde. Demnach kann dem Fehlen eines entsprechenden Eintrags in dem Plan keine durchgreifende Bedeutung zukommen. Vielmehr ist aufgrund der Angaben des Zeugen davon auszugehen, dass er einen entsprechenden Passus zu einer Absturzsicherung aufgenommen hätte, wäre ihm die geplante Durchführung der Arbeiten bekannt gewesen. So hat der Zeuge erklärt, dass ein Arbeiten ohne Absturzsicherung an der Stelle gar nicht zulässig sei. Aus dem Fehlen kann demnach eine vollständige Befreiung des Arbeitgebers nicht abgeleitet werden. Soweit das Amtsgericht ausführt, dass dem Zeugen H. bekannt gewesen sein muss, wo, wie und unter welchen Bedingungen auf der Baustelle gearbeitet werden muss, entspricht diese – den Angaben des Zeugen H. widersprechende – Vermutung aus Sicht der Kammer zwar der Einlassung des Angeschuldigten K., nicht jedoch dem für die Eröffnungsentscheidung wesentlichen Aktenbestand, dessen Hintergründe im Rahmen der Hauptverhandlung einer weiteren Aufklärung bedürfen.

Der ebenfalls in der angefochtenen Entscheidung erwähnte Umstand, dass in der Dokumentation zum Begehungsprotokoll Nr. 13 vom 31.08.2020 zu Nr. 2. das Lichtbild einer in die Baugrube führenden Leiter mit dem Zusatz “Leiterkopf ragt über die Austrittsstelle hinaus” und “keine Maßnahmen notwendig” enthält, steht aus Sicht der Kammer nicht im entscheidungserheblichen Zusammenhang mit dem eingetretenen Sturzgeschehen. Die abgebildete Leiter steht am Rand der Baugrube und dient offensichtlich als Ein- und Ausstiegshilfe für Arbeiten in der Baugrube und nicht – jedenfalls nicht vorrangig – als Arbeitsmittel für konkrete Baumaßnahmen. Sie steht nach dem Ermittlungsergebnis auch nicht an der Stelle, an der die dem Sturzgeschehen vorausgegangenen Arbeiten durchgeführt worden sind. Allein das Vorhandensein einer – für den Einstieg in die Baugrube wohl notwendigen – Leiter lässt für den Zeugen nicht erkennen, dass spätere Arbeiten an anderer Stelle in gewisser Höhe vorgesehen waren.

bb) Der Angeschuldigte K. ist seiner sich aus dem Arbeitsschutzgesetz ergebenden Pflicht zur Erstellung einer (wirksamen) Gefährdungsbeurteilung bzw. jedenfalls seiner Pflicht zur Handlung nach den darin als notwendig angesehen Maßnahmen zum Schutz seiner Beschäftigten nicht nachgekommen.

Nach Angaben des Zeugen Kr. vom Staatlichen Gewerbeaufsichtsamt hat der Angeschuldigte K. ihm gegenüber erklärt, eine Gefährdungsbeurteilung gar nicht durchgeführt zu haben. Soweit der Angeschuldigte selbst – so seine spätere Einlassung – eine von seinem Mitarbeiter H. gefertigte Gefährdungsbeurteilung für die maßgebliche Baustelle in A. mit dem Erstellungsdatum 10.08.2020 vorgelegt hat, trägt diese – anders als andere zugleich vorgelegte Gefährdungsbeurteilungen – nicht die Unterschrift des Angeschuldigten K., mit der die Gefährdungsbeurteilung Gültigkeit erlangen sollte. Inwieweit das Dokument demnach über den Entwurfstatus hinaus überhaupt wirksam zur Kenntnis des Angeschuldigten K. gelangt ist, lässt sich nicht nachprüfen. Aufgrund der Angaben des Zeugen Kr. erscheint eine wirksam fertiggestellte Gefährdungsbeurteilung in dieser Konstellation jedoch zweifelhaft. Mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ist demnach bereits von einer nicht ordnungsgemäß erstellten Gefährdungsbeurteilung auszugehen. Würde man hingegen mit der angefochtenen Entscheidung die Auffassung vertreten, eine Gefährdungsbeurteilung sei erstellt worden, so wird durch das Amtsgericht verkannt, dass der Angeschuldigte K. den aufgestellten Anforderungen an den Arbeitsschutz nicht gerecht geworden ist. Das als Gefährdungsbeurteilung vorgelegte Papier hält nämlich als technische Schutzmaßnahmen Absturzsicherungen an Absturzkanten, Seitenöffnungen und Bodenöffnungen für erforderlich. Der Angeschuldigte K. hätte demnach aufgrund der Gefährdungsbeurteilung Veranlassung gehabt, insoweit tätig zu werden. Entsprechende Absturzsicherungen waren hingegen an der verfahrensgegenständlichen Absturzstelle nicht vorhanden.

cc) Für die vorgenommenen Arbeiten der Verschraubung eines Stahlträgers in mindestens 2,75 m Höhe sind die in der konkreten Konstellation erforderlichen Schutzmaßnahmen durch den Angeschuldigten K. nicht getroffen worden.

(1) Allgemein gilt, dass die nach den Umständen des Einzelfalls aus Sicht eines umsichtig Handelnden notwendigen Vorkehrungen zum Schutze anderer zu treffen sind (vgl. BGH, Urteil vom 13. Oktober 2021 – 2 StR 418/19 -, BGHSt 66, 270-294, Rn. 30). Eine Verkehrssicherungspflicht beschränkt sich demnach auf das Ergreifen solcher Maßnahmen, die nach den Gesamtumständen zumutbar sind und die ein verständiger und umsichtiger Mensch für notwendig und ausreichend hält, um Andere vor Schäden zu bewahren (vgl. BGH, Beschluss vom 5. August 2015 – 1 StR 328/15 -, BGHSt 61, 21-28, Rn. 9). In welchem Umfang die Erfolgsabwendungspflicht besteht, bestimmt sich daher nach dem Grad der Gefahr. Die Anforderungen an den für eine Gefahrenquelle Zuständigen sind umso höher, je größer bei erkennbarer Gefährlichkeit einer Handlung die Schadenswahrscheinlichkeit und Schadensintensität sind (vgl. BGH, Urteil vom 13. November 2008 – 4 StR 252/08, BGHSt 53, 38, 42 Rn. 16 mwN).

(2) Diese allgemeinen Anforderungen an den Träger von Sicherungspflichten werden durch konkret formulierte Unfallverhütungsvorschriften für eine Vielzahl gleichgelagerte Fälle konkretisiert. Für den vorliegenden Fall gilt nach Ziffer 8.2 Abs. 7 Nr. 3 der Technischen Regel für Arbeitsstätten ASR A2.1 (Schutz vor Absturz und herabfallenden Gegenständen, Betreten von Gefahrenbereichen), dass an allen Arbeitsplätzen mit mehr als 2,00 m Absturzhöhe entsprechende Schutzvorrichtungen vorhanden sein müssen, die ein Abstürzen von Beschäftigten verhindern (sog. Absturzsicherungen). Dies war bei dem Arbeitsplatz auf dem Stahlträger in mindestens 2,75 m Höhe nicht der Fall. Soweit der Arbeitsort möglicherweise auch mit einer Leiter hätte angegangen werden können und dieses Vorgehen nach der Technischen Regel für Betriebssicherheit TRBS 2121 Teil 2 (Ziffer 4.2.4) mutmaßlich aufgrund einer Standhöhe von unter zwei Metern hätte zulässig sein können, hat die Kammer darüber nicht zu entscheiden, weil diese Vorgehensweise im konkret vorliegenden Fall nach dem bisherigen Beweisergebnis durch die ausführenden Personen nicht gewählt worden ist und es demnach auf hypothetisch zulässige, aber tatsächlich nicht genutzte Arbeitsweisen nicht ankommt.

(3) Ein Verstoß gegen die Arbeitsstättenrichtlinie ASR A2.1 ist grundsätzlich auch geeignet, eine Sorgfaltspflichtverletzung zu begründen. Die von einer zuständigen Behörde kraft öffentlicher Gewalt festgesetzten Weisungen zur Feststellung von Inhalt und Umfang von Verkehrssicherungspflichten sind grundsätzlich bindend, sodass ein Verstoß auch geeignet ist, die Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht zu begründen (vgl. OLG Oldenburg (Oldenburg), Urteil vom 28. Februar 2017 – 2 U 89/16 -, Rn. 25, juris; BGH, Urteil vom 13. März 2001 – VI ZR 142/00 -, Rn. 10, juris). Das ist bei der Arbeitsstättenrichtlinie ASR A2.1 der Fall. Die Arbeitsstättenrichtlinien werden durch den gem. § 7 ArbStättV beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales eingerichteten Ausschuss für Arbeitsstätten erarbeitet und im Gemeinsamen Ministerialblatt bekannt gemacht. In dem jeweiligen Bereich konkretisieren die jeweiligen Arbeitsstättenrichtlinien die Anforderungen an die Arbeitgeber. Es handelt sich demnach um eine Vorgabe an die Arbeitgeber, bei der im Falle eines Verstoßes entweder eine anderweitige Schutzmaßnahme sichergestellt sein muss oder aber von einem Sorgfaltspflichtverstoß ausgegangen werden kann. Eine anderweitige Schutzvorrichtung als die erforderliche Absturzsicherung ist indes nicht vorgehalten worden.

dd) Der Arbeitsbereich auf dem Stahlträger war auch Teil der Baustelle im Sinne von § 1 Abs. 3 BaustellV. Hiernach ist eine Baustelle der Ort, an dem ein Bauvorhaben ausgeführt wird. Demnach galten für diesen als Arbeitsstätte anzusehenden Bereich wie auch die für den gesamten Baustellenbereich die Regelungen der Arbeitsstättenrichtlinie ASR A2.1. Soweit dort in Ziffer 8.2 Abs. 1 beschrieben wird, dass ein Arbeitsplatz auf einer Baustelle der zur Durchführung der Arbeiten erforderliche räumlich begrenzte Bereich sei, der einer bestimmten Anzahl von Beschäftigten von ihrem jeweiligen Arbeitgeber zum Tätigwerden zugewiesen werde, bedarf schon aus Gründen der Praktikabilität denklogisch nicht einer Einzelzuweisung jeden Arbeitsschrittes. Für die Begründung eines hinreichenden Tatverdachts bedarf es demnach auch somit nicht einer ausdrücklich ausgesprochenen oder gar schriftlich fixierten Zuweisung zum Betreten des Stahlträgers, vielmehr genügt – gerade bei langjährig gemeinsam arbeitenden Personen – die konkludente Billigung des jeweiligen Vorgehens. Soweit das Amtsgericht demnach unter Hinweis auf die Aussage des Zeugen E. ausführt, dass E. “von dem Angeschuldigten K. selbst noch einige Tage vor dem Unfall darauf hingewiesen worden” sei, “dass sie niemand an die Spundwandkante zu stellen habe, und insoweit auch Absperrbalken aufgestellt werden sollen, damit dort niemand herunterfällt”, vermischt die angefochtene Entscheidung die Einlassung des Angeschuldigten im Verteidigerschriftsatz vom 27.10.2022 und das dortige Zitat aus der Vernehmung des Zeugen E. (Bl. 41, 42 Bd. II), gibt jedoch die tatsächliche Aussage des Zeugen E. falsch wieder. Eine konkrete Anweisung wird demnach von dem Zeugen E. nicht vorgetragen. Die vom Amtsgericht angenommene aktive Zuwiderhandlung gegen eine Anweisung entspricht demnach nicht dem bisherigen Ermittlungsergebnis. Das Tätigwerden des Zeugen E. auf dem “Arbeitsbereich Stahlträger” ist vielmehr mit hinreichender Wahrscheinlichkeit jedenfalls durch den Angeschuldigten S. als vorgesetztem Polier aktiv gebilligt worden, was aus dem arbeitsteiligen – nachfolgend unter ee) beschriebenen – Tätigwerden der beiden Personen während der Arbeit an dem Stahlträger zum Zeitpunkt des Absturzes deutlich wird.

ee) Es handelt sich zudem mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nicht um einen Fall der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung des Zeugen E., die eine Verantwortlichkeit entfallen lassen könnte. Grundsätzlich entfällt die strafrechtliche Verantwortlichkeit eines Arbeitgebers für die Unfallfolgen bei einem von ihm begangenen Verstoß gegen Unfallverhütungsvorschriften, der zur Verletzung eines in seinem Betrieb beschäftigten Arbeitnehmers führt, nicht deshalb, weil dem Arbeitnehmer die Nichteinhaltung der Unfallverhütungsvorschriften bekannt war und er in Kenntnis der hieraus entspringenden Gefahren für Leib und Leben seine Arbeitsleistung erbrachte (Heinrich in: Leipziger Kommentar zum StGB, 13. Auflage, § 222 StGB, Rn. 65). Die Kammer hat aber bedacht, dass ein Arbeitgeber nicht für die Verletzung seiner sich in voller Kenntnis der mit dem Verstoß verbundenen Gefahr selbst schädigenden Arbeitnehmer verantwortlich wäre, wenn er ihre Willensbildung insoweit nicht beeinflusst hat (vgl. OLG Rostock, Urteil vom 10. September 2004 – 1 Ss 80/04 I 72/04 -, juris). So liegt der Fall jedoch hier nicht, eine bewusste Selbstschädigung des Zeugen E. liegt – zumindest nach dem derzeitigen Ermittlungsstand – nicht vor. Soweit mit dem Schriftsatz des Verteidigers des Angeschuldigten S. vom 31.03.2022 ausgeführt wird, der Zeuge E. habe selbständig die Spundwand überstiegen und sei auf den Stahlträger geklettert, obwohl der Angeschuldigte S. mit seiner Unterstützung bei der Verschraubung des Stahlträgers gar nicht gerechnet habe, ist vielmehr nach dem bisherigen Ermittlungsergebnis hinreichend wahrscheinlich, dass diese Einlassung nicht den tatsächlichen Abläufen vor Ort entspricht.

(1) Der Zeuge E. hat in seiner Vernehmung vom 10.09.2020 ausgeführt, dass er zum Vorfallszeitpunkt auf dem Stahlträger gestanden habe, um dort einige Stangen anzuschrauben. Der Angeschuldigte S. habe währenddessen unten auf der Bodenplatte gestanden und in einer Materialkiste nach Schraubmuttern geschaut, die er ihm, E., habe anreichen sollen. Diese von dem Zeugen E. geschilderte Zusammenarbeit in Kenntnis der Position und Aufgabe des jeweils anderen entspricht auch den zunächst getätigten Angaben des Angeschuldigten S. selbst. Dieser hat in einer ersten Befragung am Unfallort am 01.09.2020 gegenüber KHK M. angegeben, dass er gerade Schrauben aus der Materialkiste habe holen wollen, als der Absturz passiert sei. Konkretisiert hat der Angeschuldigte dies nach der Belehrung als Zeuge sowie nach der Belehrung gem. § 55 StPO in seiner Zeugenvernehmung vom 22.10.2020. Hier gab der Angeschuldigte S. an, dass er eine Mutter habe holen und seinem Kollegen E. anreichen wollen. Der Kollege E. habe diese entgegennehmen und aufschrauben wollen, um den Querriegel zu sichern. Insoweit ergibt sich bei den zeitnah zum Vorfallstag getätigten Vernehmungen eine Übereinstimmung der – inzwischen unvereinbar gegenüberstehenden – Angaben der beiden Personen. Demnach könnte die erst nach Akteneinsicht, anwaltlicher Beratung und einigem Zeitablauf in der über seinen Verteidiger mit Schriftsatz vom 31.03.2022 getätigten Einlassung des Angeschuldigten S., der Zeuge E. habe lediglich aus einem ungefährlichen Bereich den Träger sichern sollen, während der Zeuge T. mit S. den Träger hätte verschrauben wollen, als Schutzbehauptung zu werten sein.

(2) Einer Verwertung der damaligen Angaben des Angeschuldigten S. steht auch nichts entgegen, weil sich ein gegen ihn gerichteter Tatverdacht zum Zeitpunkt seiner zeugenschaftlichen Vernehmung aufgrund einer etwaigen Verantwortlichkeit vor Ort noch nicht in einem Maß verdichtet hat, dass er ernstlich als Täter oder Beteiligter der untersuchten Straftat in Betracht kam (vgl. BGH, Urteil vom 18. Dezember 2008 – 4 StR 455/08 -, BGHSt 53, 112-118, Rn. 9). Welche konkreten Angaben letztlich getätigt worden und wie sich dadurch das Bild zum Zeitpunkt des Absturzes dargestellt hat, bleibt insoweit der Aufklärung des Sachverhaltes in der Hauptverhandlung vorbehalten.

ff) Die erforderliche, aber fehlende Schutzvorrichtung war schließlich auch ursächlich für die eingetretenen Verletzungen des Zeugen E.. Hätte eine Absturzsicherung bestanden, wäre es mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nicht zu dem Sturzgeschehen und dem Verletzungsbild des Zeugen E. gekommen.

Das Erfordernis einer Absturzsicherung hätte der noch am Vorfallstag auf der Baustelle anwesende Angeschuldigte K. auch erkennen können und müssen. Als langjährig tätiger Bauunternehmer und Arbeitgeber darf mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erwartet werden, dass er über hinreichende Kenntnis der geltenden Sorgfaltsnormen verfügte und sein Verhalten daran ausrichten konnte (vgl. Parigger/Helm/Stevens-Bartol, Arbeits- und Sozialstrafrecht, StGB § 229 Rn. 4, beck-online). Dass es zu einem Absturz kommen kann, lag nicht außerhalb der Lebenserfahrung und war auch nicht auf die Verkettung mehrerer atypischer Umstände zurückzuführen.

Soweit nach dem allgemeinen Vertrauensgrundsatz zur Ausgestaltung von Sorgfaltspflichten gilt, dass grundsätzlich jeder auf sorgfaltsgemäßes Verhalten anderer und die Einhaltung seiner Sorgfaltspflichten vertrauen darf, so ist der Vertrauensgrundsatz jedenfalls dann erschüttert, wenn ein triftiger Anlass besteht, mit dem Fehlverhalten anderer zu rechnen, wenn also dem Vertrauen erkennbar die Grundlage entzogen ist (vgl. OLG Hamm 3. Strafsenat, Beschluss vom 12.01.2016 – II-3 RVs 91/15 und 3 RVs 91/15 m.w.N.). Das ist gerade auch dann der Fall, wenn man – wie oben dargestellt – gegen bestehende Sorgfaltspflichten aus dem Bereich des Arbeitsschutzes verstößt. Wer sich nämlich über für ihn geltende Unfallverhütungsvorschriften hinwegsetzt, die gerade zur Vermeidung des eingetretenen Erfolgs dienen, kann sich, abgesehen von außergewöhnlichen Kausalverläufen in aller Regel nicht darauf berufen, für ihn sei ein durch die Verletzung der Vorschriften verursachter Unfall nicht vorhersehbar gewesen. Das Zuwiderhandeln gegen derartige gesetzliche oder behördliche Vorschriften stellt mithin ein Beweisanzeichen für die Voraussehbarkeit des Erfolges dar, welches diese regelmäßig indiziert (vgl. OLG Karlsruhe, Urteil vom 16. Dezember 1999 – 3 Ss 43/99 -, juris).

Da dem Angeschuldigten K. als verantwortlichem Unternehmer, der noch am Vorfallstag vor Ort war, die konkrete Durchführung der Arbeiten und somit auch das grundsätzliche Erfordernis einer Absturzsicherung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit bekannt war, kann er sich mithin nicht auf ein Vertrauen darauf berufen, seine Mitarbeiter würden ohne die erforderliche Absturzsicherung die Arbeiten ordnungsgemäß oder gar nicht durchführen.

gg) Schließlich dringt auch die Einlassung des Angeschuldigten K. in seiner Beschuldigtenvernehmung vom 26.10.2020 nicht durch. Soweit er darin vorträgt, seine Mitarbeiter seien grundsätzlich auch selbst für ihre Sicherheit verantwortlich und er erwarte, dass sie selbst erkennen, welche Sicherungen erforderlich seien, befreit ihn diese Einlassung nicht von einer Verantwortung. Eine pauschale Übertragung des Arbeitsschutzes in Eigenverantwortung führt im Fall des Unterlassens von den Arbeitgeber treffenden Sicherungsmaßnahmen nicht zum Wegfall des Fahrlässigkeitsvorwurfs (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 13. Juli 2021 – I-7 U 41/20 -, juris).

hh) Der hinreichende Tatverdacht hinsichtlich des Angeschuldigten K. entfällt schließlich auch nicht aufgrund einer möglichen Übertragung der ihn treffenden Sorgfaltspflichten auf seinen auf der Baustelle tätigen Polier, den Angeschuldigten S..

(1) Sicherungspflichten können grundsätzlich an andere Personen übertragen oder delegiert werden, jedoch geht damit nicht zwingend einher, dass der ursprünglich Verantwortliche gänzlich von seinen Pflichten frei würde (vgl. BGH, Urteil vom 13. Oktober 2021 – 2 StR 418/19 -, BGHSt 66, 270-294, Rn. 31 m.w.N.). Bei der Art der verbleibenden Pflichten kommt es auf die Art der Übertragung an, wobei zwischen einer Aufgabenverteilung auf gleicher Ebene (horizontale Arbeitsteilung) und die Delegation an untergeordnete Personen (vertikale Arbeitsteilung) unterschieden wird. Im hier zwischen den – in einem Über- und Unterordnungsverhältnis tätigen – Angeschuldigten vorliegenden Fall der vertikalen Arbeitsteilung sind durch den ursprünglich Pflichtigen organisatorische Maßnahmen zu treffen. Für ihn besteht vorab die Pflicht zu einer sorgfältigen Auswahl und Instruktion zur Erfüllung der übertragenen Aufgabe und im Nachgang der Übertragung die Pflicht zu einer allgemeinen – jedenfalls stichprobenartigen – Überwachung, die dabei umso strenger ist, desto höher die drohende Gefahr ist (vgl. BGH, Urteil vom 21. April 1964 – 1 StR 72/64, BGHSt 19, 286, 288 f.; LK-StGB/Weigend, 13. Aufl., § 13 Rn. 60; Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Gaede, StGB, 5. Aufl., § 13 Rn. 41; SSW-StGB/Momsen, 5. Aufl., § 13 Rn. 33; Esser/Keuten, NStZ 2011, 314, 320; OLG Karlsruhe, NJW 1977, 1930 f.). Im Rahmen der Überwachung wird man sich jedenfalls nicht bloß auf das ordnungsgemäße Handeln des Delegaten verlassen dürfen. Der Umfang solcher Kontrollpflichten hängt im Einzelfall davon ab, inwieweit dem Delegaten bei der Ausführung seiner Tätigkeit Eigenverantwortlichkeit zukommt. Hiernach verbleiben umso mehr Pflichten – und damit einhergehend Verantwortung für das gefährdete Rechtsgut – bei dem Delegierenden, desto weniger demjenigen, dem eine Aufgabe übertragen worden ist, Handlungsspielraum zukommt (vgl. BGH, Urteil vom 13. Oktober 2021 a.a.O., Rn. 36; OLG Celle, Beschluss vom 7. September 2023 – 2 Ws 244/23 -, juris). Soweit im Einzelfall auch die ursprünglich mit der Überwachungsaufgabe betraute Person eine eigene Sorgfaltspflicht zur Gefahrenbeseitigung treffen kann, ist das insbesondere dann der Fall, wenn die überwachende Person ohnehin am selben Ort ist (vgl. BGH, Urteil vom 31. Januar 2002 – 4 StR 289/01 -, BGHSt 47, 224-233, Rn. 25). In diesen Fällen ist von einer Einschränkung der Eigenverantwortlichkeit des Sicherungspflichtigen auszugehen, sodass erhöhte Pflichten des Überwachenden bestehen (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 7. September 2023, a.a.O.).

(2) Gemessen an diesen Grundsätzen kommt im vorliegenden Fall eine vollständige Übertragung der den Angeschuldigten K. treffenden Pflichten nicht in Betracht. Der nach dem bisherigen Ermittlungsergebnis regelmäßig auf der Baustelle anwesende Angeschuldigte K. hat sich offenbar in hohem Maße im organisatorischen Bereich zur Durchführung der konkreten Baumaßnahme am W.-Durchlass eingebracht, sodass die Eigenverantwortlichkeit auch im Bereich der konkreten Umsetzung der Maßnahme bei dem Angeschuldigten S. als Polier vor Ort eingeschränkt war. Der Angeschuldigte K. durfte sich demnach gerade nicht darauf verlassen, dass der Angeschuldigte S. die notwendigen Absturzsicherungen installieren lässt. Doch selbst dann hätte der regelmäßig anwesende Angeschuldigte K. das Erfordernis der Sicherungsmaßnahmen aus den oben dargestellten Gründen erkennen und aufgrund der Untätigkeit des Angeschuldigten S. im Rahmen seiner Überwachungspflichten handeln müssen. Erkennt eine überwachungspflichtige Person, dass die mit den Verkehrssicherungspflichten betraute Person in bestimmter Weise nachlässig arbeitet, so darf die überwachungspflichtige Person nicht untätig bleiben (vgl. BGH, Urteil vom 21. April 1964, a.a.O., Rn. 4).

c) Es besteht ferner ein hinreichender Tatverdacht gegen den Angeschuldigten S. in seinen Funktionen als Polier auf der Baustelle und Vorarbeiter des Zeugen E., weil er mit hinreichender Wahrscheinlichkeit gegen die ihm mitübertragenen Sorgfaltspflichten verstoßen hat. Der Angeschuldigte S. war in seiner Funktion als Polier auf der Baustelle – zumindest sekundär – sicherungspflichtig und insoweit jedenfalls durch eine faktische Mitübernahme der Sicherungspflichten zusammen mit dem Angeschuldigten K. verantwortlich.

Die Kammer nimmt zunächst zur Vermeidung von Wiederholung auf die unter b) bezüglich des Angeschuldigten K. erfolgten Ausführungen Bezug, soweit sie – insbesondere im Hinblick auf das Bestehen von Verkehrssicherungspflichten und deren Verletzung – auch für den Angeschuldigten S. von Bedeutung sind.

aa) Nach der Stellungnahme der Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG BAU) vom 10.08.2022 ist die Aufgabe eines Poliers das Leiten der Arbeitsprozesse auf Baustellen und die Überwachung der fachgerechten Ausführung nach den Vorgaben des Unternehmers. Im Bereich des Arbeitsschutzes hat er demnach die festgelegten Maßnahmen auf der Baustelle umzusetzen. Gem. § 3 Abs. 1 Satz 2 der DGUV Vorschrift 38 (“Bauarbeiten) haben von einem Unternehmen als Vorgesetzte eingesetzte Personen zu gewährleisten, dass bei der Durchführung der Bauarbeiten die Arbeitsschutz- und Unfallverhütungsvorschriften eingehalten und die Gefährdungen für die Sicherheit und Gesundheit der Versicherten minimiert werden. Dass der als Polier für das Unternehmen des Angeschuldigten K. tätige Angeschuldigte S. diese regelmäßigen Aufgaben eines Poliers auch tatsächlich übernommen hat, lässt sich dem bisherigen Ermittlungsergebnis unschwer entnehmen. Der Angeschuldigte S. ist nach seinen eigenen Angaben als gelernter Maurer seit dem Jahr 1994 in dem Unternehmen des Angeschuldigten K. tätig und übt etwa seit dem Jahr 2014 die hervorgehobene Tätigkeit des Poliers aus. Der Angeschuldigte K. hat hierzu in seiner Beschuldigtenvernehmung vom 26.10.2020 ausgeführt, dass der Angeschuldigte S. als Polier nach ihm für die Einhaltung der Sicherheitsvorschriften zuständig sei.

bb) Der Angeschuldigte S. war demnach in seiner Funktion als Polier aufgrund einer insoweit erfolgten Übertragung auf der konkreten Baustelle des Absturzortes neben dem Angeschuldigten K. für die Einhaltung der diesem originär obliegenden Sicherungspflichten zuständig.

Einer ausdrücklichen Übertragung der Pflichten bedarf es insoweit nicht. Regelmäßig begründet bereits die tatsächliche Übernahme eines entsprechenden Pflichtenkreises diesbezügliche Sorgfaltspflichten (vgl. BGH, Urteile vom 13. November 2008 – 4 StR 252/08 – und vom 31. Januar 2002 – 4 StR 289/01 -, juris; OLG Celle, Beschluss vom 7. September 2023 – 2 Ws 244/23 -, Rn. 22, juris). Die Übernahme von Verantwortung und Ausübung der Sicherungspflichten vor Ort anstelle des nicht ständig vor Ort auftretenden Angeschuldigten K. folgt bereits aus der hervorgehobenen Tätigkeit als Polier. Der Angeschuldigte S. war nach dem Ermittlungsergebnis auf der Baustelle in A. als Vorarbeiter eingesetzt und durchgehend anwesend, während der Angeschuldigte K. lediglich zeitweise aber dennoch regelmäßig die Arbeiten vor Ort überwacht und die Ausführung und Überwachung ansonsten seinem Polier übertragen hat.

Die beiden Angeschuldigten waren demnach gemeinschaftlich in unterschiedlicher Ausprägung verpflichtet, die Einhaltung der oben dargestellten Pflichten sicherzustellen. Eine solche gemeinschaftliche Wahrnehmung von Verkehrssicherungspflichten ist auch möglich. Ein Arbeitnehmer eines Unternehmers, der einen Bau zumindest weitgehend in eigener Verantwortung leitet, ist neben dem primär Sicherungspflichtigen ebenfalls verkehrssicherungspflichtig, da die Trägerschaft einer Verkehrssicherungspflicht nicht auf eine Person beschränkt ist (vgl. OLG Stuttgart, Urteil vom 12. März 1999 – 2 U 74/98 -, juris; BGH, Urteil vom 31. Januar 2002 – 4 StR 289/01 -, BGHSt 47, 224-233, Rn. 22 – 23 m.w.N.). Im Rahmen des Arbeitsschutzes können daher auf der Baustelle neben dem Arbeitgeber auch dessen Bauleiter, Polier oder Vorarbeiter verpflichtet sein, Arbeitsschutzmaßnahmen zu treffen (vgl. Kollmer/Klindt/Schucht/G. Kollmer, 4. Aufl. 2021, BaustellV § 5 Rn. 1).

Der Angeschuldigte K. hat die ihn originär treffenden Pflichten insoweit zumindest faktisch auf den Angeschuldigten S. übertragen, ohne dass er – aus den oben dargestellten Gründen – gänzlich frei von einer eigenen Verantwortung wurde. Der Angeschuldigte S. selbst hatte als Polier auf der Baustelle durch seine zumindest faktische Übernahme der Verkehrssicherungspflichten dafür Sorge zu tragen, dass die vorzunehmenden Arbeiten ordnungsgemäß nach den geltenden Arbeitsschutzvorschriften durchgeführt werden.

cc) Dieser Pflicht ist der Angeschuldigte S. ebenso wie der Angeschuldigte K. mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nicht nachgekommen. Dem Angeschuldigten S. oblag insoweit auch eine eigene Prüfungspflicht, bei der er sich nicht auf eine anderslautende Einschätzung des Angeschuldigten K. verlassen durfte. Sind erkennbar Sicherungsmaßnahmen erforderlich, die vor Beginn der eigentlichen gefahrträchtigen Handlung durchgeführt werden müssen, muss sich der für die Gefahrenquelle Verantwortliche im Rahmen des ihm Zumutbaren vergewissern, dass der für die notwendige Sicherung Verantwortliche seine Aufgabe erfüllt hat, und darf nicht blindlings darauf vertrauen, dass dies auch zutrifft (vgl. BGH, Urteil vom 13. November 2008 – 4 StR 252/08 -, BGHSt 53, 38-45, Rn. 18).

Hinsichtlich der an der konkreten Baumaßnahme erforderlichen Schutzmaßnahmen kann die Kammer zur Vermeidung von Wiederholung zunächst auf die bezüglich des Angeschuldigten K. erfolgten Ausführungen Bezug nehmen. Der Angeschuldigte S. hätte demnach selbst die notwendigen Maßnahmen ergreifen oder zumindest den Angeschuldigten auf das Erfordernis hinweisen müssen.

dd) Die erforderliche, aber fehlende Schutzvorrichtung war – wie bereits ausgeführt – auch ursächlich für die eingetretenen Verletzungen des Zeugen E.. Das Erfordernis eines Gerüsts als Absturzsicherung hat der Angeschuldigte S. nach seinen Angaben in der Vernehmung vom 22.10.2020 auch erkannt. Darin hat er ausgeführt, dass man die Baugrube theoretisch komplett mit einem Gerüst hätte einrüsten müssen und dass dies auch passiert wäre, wenn das erforderliche Gerüstmaterial vorhanden gewesen wäre. Das sei aber nicht der Fall gewesen, weil man speziellere Gerüstteile benötigt hätte. Gleichwohl war der Angeschuldigte S. – als langjährig tätiger Bauarbeiter und Polier – grundsätzlich in der Lage, sein Handeln an die bestehende Gefahrenlage anzupassen und dementsprechend die Arbeiten entweder nicht durchzuführen oder aber die Organisation entsprechender Schutzmaßnahmen zu veranlassen. Dass es zu einem Absturz kommen kann, lag auch für den Angeschuldigten S. nicht außerhalb der Lebenserfahrung und war auch nicht auf die Verkettung mehrerer atypischer Umstände zurückzuführen.

3. Angesichts der vorstehenden Ausführungen unterliegt die angefochtene Nichteröffnungsentscheidung des Amtsgerichts Alfeld (Leine) vom 09.08.2023 insgesamt der Aufhebung.

Soweit die Staatsanwaltschaft mit ihrer sofortigen Beschwerde grundsätzlich zutreffend die Doppelbegründung der Nichteröffnung aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen rügt, ist dieser eher dogmatische Streitpunkt aufgrund der fehlenden Folgen nicht von Bedeutung (vgl. Stuckenberg in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage, § 204 StPO, Rn. 14).

Im Übrigen aber greifen die Ausführungen der Beschwerdeschrift im Hinblick auf die unter Ziffer 2. dargestellten Umstände durch. Die angefochtene Entscheidung verkennt insbesondere, dass zwischen den allein den Arbeitgeber treffenden und nach § 5 BaustellV bei ihm verbleibenden Pflichten sowie den Pflichten der Bauherrin aus der Baustellenverordnung zu unterscheiden ist (siehe oben unter 2. b) aa)). Eine tatsächliche Übernahme der Arbeitgeberpflichten aus dem Arbeitsschutzgesetz durch den mit der Erstellung des Sicherheits- und Gesundheitsplans beauftragten Ingenieurbüros liegt demnach bereits nach dem gesetzgeberischen Willen fern, da die Baustellenverordnung ausdrücklich in § 5 Abs. 3 BaustellV bestimmt, dass die Verantwortlichkeit der Arbeitgeber für die Erfüllung ihrer Arbeitsschutzpflichten durch die Maßnahmen nach den §§ 2 und 3 der Baustellverordnung nicht berührt wird (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 9. November 2012, a.a.O.). Auch in tatsächlicher Hinsicht wird schon aus den Angaben des Zeugen H. deutlich, dass er gar nicht vollständig über die Baumaßnahmen des einzelnen Unternehmens des Angeschuldigten K. unterrichtet war und insoweit seinen Fokus gar nicht auf die konkret für dessen Baumaßnahmen erforderlichen Schutzmaßnahmen, sondern vielmehr auf die Erstellung des Sicherheits- und Gesundheitsplans insgesamt gerichtet hat.

Schließlich ist auch der vom Amtsgericht vorgetragene Aspekt, es seien am Tag des Vorfalls insgesamt sieben Personen, die mit Sicherheitsfragen befasst gewesen seien, auf der Baustelle anwesend gewesen, ohne dass es zu Beanstandungen gekommen sei, nicht geeignet, eine andere Entscheidung zu begründen. Ein Arbeitgeber und ein Polier, die keine Schutzmaßnahmen für eine bestimmte – auf diese Art und Weise unzulässige – Art der Ausführung treffen, werden nicht davon befreit, dass dritte Personen, denen die konkrete Art der Ausführung der von einem anderen Unternehmen durchzuführende Arbeiten nicht bekannt ist, insoweit keine Beanstandungen äußern. Selbst wenn das Amtsgericht – entgegen dem bisherigen Aktenbestand – in der Hauptverhandlung feststellen sollte, dass der Zeuge H. und andere mit Sicherheitsfragen betraute Personen in Kenntnis der konkret gewählten Ausführungsform und somit eines Verstoßes gegen Ziffer 8.2 Abs. 7 Nr. 3 der Technischen Regel für Arbeitsstätten ASR A2.1 keine Bedenken geäußert hätten, lässt das einen Verstoß nicht entfallen. Allein der Umstand, dass Dritte keine Bedenken gegen einen Regelverstoß haben, setzt die bestehende Regel nicht außer Kraft.