vorgestellt von Thomas Ax
1. Für die Bestimmung der näheren Umgebung ist auf diejenige Umgebung abzustellen , auf die sich die Ausführung des Vorhabens auswirken kann und die ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder doch beeinflusst.
2. Dabei ist die nähere Umgebung für die in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB bezeichneten Kriterien jeweils gesondert abzugrenzen. Denn die Merkmale, nach denen sich ein Vorhaben im Sinne von in die Eigenart dieser näheren Umgebung einfügen muss, sind jeweils unabhängig voneinander zu prüfen. Bei der Bestimmung des zulässigen Maßes der baulichen Nutzung eines Grundstücks wird der Umkreis der zu beachtenden vorhandenen Bebauung in der Regel enger zu begrenzen sein als bei der Art der Nutzung.
3. Die Prüfung sämtlicher Tatbestandsmerkmale des § 34 Abs. 1 BauGB hat sich an dessen Funktion im Sinne eines Planersatzes zu orientieren.
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 26.09.2024 – 10 N 68.21
Gründe:
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Der Senat prüft nur die von der Klägerin innerhalb der Begründungsfrist dargelegten Gründe (§ 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO). Gemessen daran hat das Verwaltungsgericht ihre Klage mit dem Begehren, den Beklagten zur Erteilung einer Baugenehmigung für die Errichtung von zwei Doppelhäusern auf ihrem 8… m2 großen Grundstück F… Chaussee 7… zu verpflichten, zu Recht abgewiesen.
Die Klägerin macht allein ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils geltend (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
Dieser Zulassungsgrund ist gegeben, wenn ein tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung des angegriffenen Urteils mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird und auch die Richtigkeit des Entscheidungsergebnisses solchen Zweifeln unterliegt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Oktober 2020 – 2 BvR 2426/17 -; Beschluss des Senats vom 30. November 2023 – OVG 10 N 61/20 -, jeweils m.w.N.). Das gelingt der Klägerin nicht.
Die Klägerin meint, das Verwaltungsgericht habe ihre Klage zu Unrecht mit der Begründung abgewiesen, dass sich das geplante Vorhaben hinsichtlich des Nutzungsmaßes nicht in die nähere Umgebung einfüge. Das Gericht habe den maßgeblichen Umgriff der näheren Umgebung zu eng bestimmt.
Das Verwaltungsgericht hat angenommen, die nähere Umgebung umfasse lediglich die in einem Umkreis von etwa 50 bis 100 m beidseitig der F… Chaussee befindliche Bebauung. Danach seien in der maßgeblichen Umgebung lediglich ein- bis zweigeschossige Wohnhäuser in aufgelockerter, vorstädtischer Bebauung zu finden. Der zwei Grundstücke weiter östlich gelegene (noch unbebaute) Bereich des Bebauungsplans S… zähle hingegen nicht dazu. Denn dieser sehe mit einer geschlossenen, viergeschossigen Blockrandbebauung und viergeschossigen Mehrfamilienhäusern im Blockinnenbereich eine gänzlich andere Bebauungsstruktur vor.
Dass es sich dabei ebenfalls um Wohnen handele, reiche für die Einbeziehung dieser Fläche in die nähere Umgebung des Baugrundstücks nicht aus.
Die Klägerin beanstandet nicht die Tatsachen, die das Verwaltungsgericht seiner Argumentation zugrunde legt.
Sie rügt vielmehr dessen Auffassung, allein die baulichen Unterschiede rechtfertigten die Annahme einer städtebaulichen Zäsur mit der Folge, dass dieser Bereich nicht in die nähere Umgebung einzubeziehen sei.
Hierzu trägt sie vor, nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sei eine Grenze zwischen näherer und fernerer Umgebung dort zu ziehen, wo jeweils einheitlich geprägte Bebauungskomplexe mit voneinander verschiedenen Bau- und Nutzungsstrukturen aneinanderstießen (BVerwG, Beschluss vom 28. August 2003 – 4 B 74.03 -). Hierbei komme dem Wort “und” eine besondere Bedeutung zu. Nach dem Wortlaut der bundesverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung reiche es für eine städtebauliche Zäsur nicht aus, wenn der fragliche Bereich eine andere Bebauungsstruktur “oder” eine andere Nutzungsstruktur aufweise. Eine solche Zäsur sei vielmehr nur dann anzunehmen, wenn eine substanzielle Andersartigkeit in Bezug auf die bauliche Struktur und die Nutzungsstruktur vorliege. Nur so sei sichergestellt, dass im Rahmen der Betrachtung nach § 34 Abs. 1 BauGB nicht einfach unliebsame Vorbilder systemwidrig “aussortiert” würden, sondern eine Grenze nur an einer tatsächlich relevanten städtebaulichen Zäsur gezogen werde.
Diese Kritik ist nicht berechtigt. Das Verwaltungsgericht hat im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und der des erkennenden Senats ausgeführt, dass für die Bestimmung der näheren Umgebung im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB auf diejenige Umgebung abzustellen sei, auf die sich die Ausführung des Vorhabens auswirken könne und die ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks präge oder doch beeinflusse. Dabei sei die nähere Umgebung für die in der Vorschrift bezeichneten Kriterien jeweils gesondert abzugrenzen. Denn die Merkmale, nach denen sich ein Vorhaben im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB in die Eigenart dieser näheren Umgebung einfügen müsse, seien jeweils unabhängig voneinander zu prüfen. Bei der Bestimmung des zulässigen Maßes der baulichen Nutzung eines Grundstücks werde der Umkreis der zu beachtenden vorhandenen Bebauung in der Regel enger zu begrenzen sein als bei der Art der Nutzung (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Dezember 2016 – 4 C 7.15 -, sowie Beschlüsse vom 13. Mai 2014 – 4 B 38.13 – und vom 4. Januar 2022 – 4 B 35.21 -; Urteil des Senats vom 1. Juni 2022 – OVG 10 B 3.17 – und Senatsbeschluss vom 23. Mai 2023 – OVG 10 N 83/20 -, jeweils m.w.N.). Ausgehend von diesem zutreffenden Ansatz begründet die Klägerin mit ihrem Einwand, das Verwaltungsgericht habe die Reichweite der näheren Umgebung bezogen auf das Maß der baulichen Nutzung allein nach der Einheitlichkeit der Baustruktur bestimmt und die Einheitlichkeit der Nutzungsstruktur außer Betracht gelassen, keine Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung (vgl. Beschluss des Senats vom 23. Mai 2023 – OVG 10 N 83/20 -).
Nichts Gegenteiliges folgt aus den von der Klägerin zitierten Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts im Beschluss vom 28. August 2003 – 4 B 74.03 -. Sie stehen im Zusammenhang mit der in jenem Verfahren aufgeworfenen Frage, ob die Einheitlichkeit bzw. Unterschiedlichkeit einer Bebauung auch ohne ein zusätzliches bauliches oder topografisches Element die nähere Umgebung im Sinne des § 34 BauGB eingrenzen kann. Das Bundesverwaltungsgericht bejahte dies mit der Anmerkung, dass die Grenzen der näheren Umgebung sich nicht schematisch festlegen lassen, sondern nach der tatsächlichen städtebaulichen Situation zu bestimmen sind, in die das für die Bebauung vorgesehene Grundstück eingebettet ist. Dabei stellte es auf kein bestimmtes Kriterium des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ab. Der Entscheidung lässt sich nicht entnehmen, dass zur Bestimmung der einheitlichen Prägung der näheren Umgebung bei allen Kriterien sowohl die Baustruktur als auch die Nutzungsstruktur in den Blick zu nehmen wäre. Vielmehr verbleibt es bei dem von dem Verwaltungsgericht herangezogenen und auch in neueren Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts festgestellten Maßstab, dass die nähere Umgebung für die einzelnen Kriterien jeweils gesondert abzugrenzen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Dezember 2016 – 4 C 7.15 – sowie Beschluss vom 4. Januar 2022 – 4 B 35.21 -, jeweils m.w.N.). Bezogen auf das Maß der baulichen Nutzung ist damit allein auf die Baustruktur abzustellen, während die Nutzungsstruktur insoweit keine einheitliche Prägung vermitteln kann (vgl. Beschluss des Senats vom 23. Mai 2023 – OVG 10 N 83/20 -; OVG Lüneburg, Urteil vom 10. Juni 2024 – 1 LB 51/22 -).
Die Klägerin macht ferner geltend, das Verwaltungsgericht leite seine Auffassung, Unterschiede in der Bebauungsstruktur reichten für die Annahme einer Zäsur aus, zu Unrecht aus dem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Juni 1991 – 4 B 88.91 – her, nach dem die unterschiedliche Nutzungsart diesseits und jenseits einer Straße eine Rolle spielen “kann“. Der zitierte Satz sei aus dem Zusammenhang gerissen und werde dieser Entscheidung nicht gerecht. Das Bundesverwaltungsgericht stelle dort lediglich klar, dass “eine andersartige Nutzungsstruktur für sich allein gesehen noch lange nicht für die trennende Wirkung einer Straße” spreche. Daraus folge eindeutig, dass es nicht nur auf eine andersartige Nutzungsstruktur “oder” bauliche Struktur ankomme, sondern dass beides relevant sei. Diese Schlussforderung der Klägerin ist nicht nachvollziehbar und trifft aus den bereits dargestellten Gründen auch nicht zu.
Die Klägerin trägt weiter vor, das Verwaltungsgericht könne sich auch nicht auf die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Münster vom 16. Juni 2016 – 2 A 1795/15 – stützen. Das Oberverwaltungsgericht bestätige vielmehr die von ihr dargelegte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (im Beschluss vom 28. August 2003 – 4 B 74.03 -, nach der die Grenze zwischen näherer und fernerer Umgebung dort zu ziehen sei, wo zwei jeweils einheitlich geprägte Bebauungskomplexe mit zwei voneinander verschiedenen Bau- und Nutzungsstrukturen aneinanderstießen. Ob es sich dann in der konkreten Entscheidung zutreffend an diesen Maßstab gehalten habe, sei für den hiesigen Fall ohne Belang. Mit diesem Vortrag dringt die Klägerin schon deshalb nicht durch, weil die abermals wiedergegebene Textpassage aus dem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts ihre Ansicht – wie ausgeführt – nicht bestätigt.
Überdies wendet die Klägerin ein, das Verwaltungsgericht könne sich für seine Begründung auch nicht auf die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. Dezember 2016 – 4 C 7.15 – berufen. Diese Entscheidung habe mit dem vorliegenden Fall nichts zu tun. Dort sei es nicht um die Bestimmung der näheren Umgebung gegangen, sondern allein um die Frage, wie die baulichen Anlagen in der näheren Umgebung im Hinblick auf das Nutzungsmaß einzuordnen und mit dem geplanten Bauvorhaben zu vergleichen seien. Dieses Vorbringen greift ebenfalls nicht. Die Klägerin beschränkt sich insoweit auf die Rüge, das von dem Verwaltungsgericht herangezogene Urteil des Bundesverwaltungsgerichts passe nicht zu seinen Ausführungen.
Sie setzt sich aber nicht inhaltlich mit der Argumentation des Verwaltungsgerichts auseinander. Abgesehen davon hat das Verwaltungsgericht das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts als Beleg für die Feststellung angegeben, die Funktion des § 34 Abs. 1 BauGB bestehe darin, auch bei Fehlen eines Bebauungsplans für eine angemessene Fortentwicklung eines Bereichs zu sorgen. Diese Äußerung des Verwaltungsgerichts stimmt mit jener des Bundesverwaltungsgerichts in dem zitierten Urteil vom 8. Dezember 2016 – 4 C 7.15 – überein.
Die Prüfung sämtlicher Tatbestandsmerkmale des § 34 Abs. 1 BauGB hat sich an dessen Funktion im Sinne eines Planersatzes zu orientieren (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24. Mai 2018 – OVG 2 B 3.17 -).
Die weiteren Darlegungen der Klägerin, die auf dem östlich gelegenen Grundstück F… Chaussee 8… vorhandene Bebauung sei trotz fehlender Fertigstellung in die Betrachtung einzubeziehen, sind unbeachtlich.
Denn dieser Bereich befindet sich nach der nicht erfolgreich angegriffenen Einschätzung des Verwaltungsgerichts außerhalb der maßgeblichen näheren Umgebung des Vorhabens. Aus diesem Grund hat es auch dahinstehen lassen, ob die dort vorgesehene Bebauung schon maßstabsbildend ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG und folgt der erstinstanzlichen Festsetzung.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).